Anna Sonnleitner – Gestalte deinen Raum der Möglichkeiten selbstaktiv und selbstbestimmt
Ich bin Anna und arbeite im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich.
Ich darf Menschen begleiten, welche gewaltsame Erfahrungen zu Hause (z.B. durch Partner*innen, Eltern, Familie), in ihrem sozialen Nahraum (z.B. im Freundes- oder Bekanntenkreis, durch Nachbar*innen) erleben oder von Stalking (beharrlicher Verfolgung) und Cyber-Gewalt (Gewalt im digitalen Raum) betroffen sind.
DANKBARKEIT und BERÜHRTHEIT – ich verspüre Dankbarkeit, wenn ich an meinen Beruf denke.
Denn: ich darf Menschen dabei begleiten ihre innere, individuelle Kraft zu erkennen und zu stärken; ein Wissen über ihre Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten zu gewinnen und ein gewaltfreies Leben zu führen.
Es ist ein mutiger, kraftvoller Schritt Unterstützung anzunehmen und sich aus gewaltsamen Beziehungen zu lösen. Die Lebensgeschichten und Kraftmomente meiner Klient*innen berühren.
In diesem Beitrag sprechen wir von Gewalt (-tat), einer Macht, ausgeübt durch Menschen, welche Machtlosigkeit, erlernte Hilflosigkeit, Kontrollverlust und ein Entfremdungsgefühl herstellen kann.
Gewaltbetroffene Menschen – gerade von Gewalt im sozialen Nahraum und häuslicher Gewalt betroffene Menschen – erleben an den eigentlich ihnen sicheren Orten Unsicherheitsfaktoren, körperliche und seelische Grenzüberschreitungen, oftmals durch ihnen vertraute Menschen. Das Vertrauen in sich selbst und in Andere kann erschüttert sein.
Oftmals stellt man mir die Fragen: Ab wann beginnt Gewalt? Ist das, was ich erlebe schon Gewalt?
Manches Mal wird Menschen in Gesprächen mit mir erst bewusst, welche Formen der Gewalt sie erleben und was das Leben in diesem Umfeld bei ihnen auslöst.
Gewaltdynamiken beginnen zumeist mit ersten – oftmals nicht gleich erkennbaren – Mikroangriffen, mit seelischen Misshandlungen, wie Erniedrigungen, Beschimpfungen, Kontrollhandlungen, Verfolgungshandlungen, Einschränkung sozialer Kontakte oder finanzieller Möglichkeiten. Die Dynamik kann von körperlicher und/oder sexueller/sexualisierter Gewalt ergänzt werden. Seelische und körperliche Grenzüberschreitungen können an Häufigkeit und Intensität zunehmen.
Die Folgen der körperlichen Gewalt sind in der Regel sichtbar und behandelbar, aber was ist mit den seelischen Misshandlungen? Seelische Verletzungen sind auf den ersten Blick oftmals unsichtbar. Seelische wie körperliche Verletzungen können dazu führen, dass verschiedene somatische Systeme des Menschen in ihrer Widerstandsfähigkeit überfordert werden, und das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich verletzt/traumatisiert wird. Menschen, welche in gewaltsamen – von Macht und Kontrolle – geprägten Beziehungen leben, können eine unterschiedlich gelagerte Abhängigkeit von der gewaltausübenden Person entwickeln, sich selbst und für das „Überleben“ in der verletzenden Beziehung „Aufopfern“. Das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein kann entgleiten und ein Gefühl von Selbstverlust und innere Starre sich auftun.
An wen kann ich mich wenden, wenn ich betroffen bin?
Die kostenlose, vertrauliche Beratung bei einem Gewaltschutzzentrum (T: 0800/700 217), einer Frauenhelpline (T: 0800/222 555), einem Frauenhaus, Rat auf Draht (Kinder & Jugendliche, T: 147), ein Entlastungsgespräch bei der Telefonseelsorge (T: 142) kann ein erster Schritt sein. Das Gewaltschutzgesetz in Österreich bietet gesetzliche Möglichkeiten, um gewaltbetroffene Personen zu schützen, manches Mal braucht es auch die Zuziehung der Polizei (T: 133, SMS Polizei: 0800 133 133) um einen Gewaltstopp und die Durchbrechung der Gewaltspirale zu erzielen.
Nun möchte ich noch einige Gedanken zu Selbstermächtigung und der Überwindung von Gefühlen der Macht – und Einflusslosigkeit teilen. In manchen Lebensphasen können Hindernisse am Weg in die Zukunftsrichtung auftreten und der individuelle Möglichkeitsraum scheint eingeschränkt zu sein, man fühlt sich unsicher, machtlos, hilflos. Doch jeder Mensch kann selbstaktiv und selbstbestimmt seine Zukunft – einen in Bewegung befindlichen Möglichkeitsraum – gestalten. Räume, welche in Bewegung sind, unterliegen Veränderungen: sie sind offen und (mit-) gestaltbar.
Es braucht die Bereitschaft sich auf Veränderung und Neues – damit auch auf sich selbst – einzulassen. Wir gestalten unseren Möglichkeitsraum und dürfen zur Wiedererlangung unserer Selbstermächtigung Begleitung annehmen.
Das ist gar nicht immer so einfach… und doch finden sich immer wieder neue Wege.